Bericht aus dem Sonderkreistag: Brücken bauen in Zeiten tiefer Gräben und wild schäumender Wasser.

Prof. Dr. Joachim Schulze, BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN, Mitglied des Kreistages in der Fraktion BündnisGrüne/SPD/KJiK

Ein kommentierender Bericht zur Sondersitzung des Kreistages in Görlitz am 15.November 2023 von Prof. Dr. Joachim Schulze, BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN, Mitglied des Kreistages in der Fraktion BündnisGrüne/SPD/KJiK

2023 wird uns auch als das Jahr der Sondersitzungen in Erinnerung bleiben. Nach der Befassung mit dem Thema Unterbringung geflüchteter Menschen im April jetzt also das Thema Haushaltsstrukturkonzept (HSK). Beide Themen wurden in der Presse und in diversen Facebookdebatten im Vorfeld stark beachtet und kontrovers beurteilt. Mit zunehmender Taktdichte vor allem noch in den letzten Tagen.

(Als Bündnisgrüne habe wir versucht, im Vorfeld zu informieren, Verunsicherung rauszunehmen und die Lage einzuordnen)

Demonstration vom Kreistag

Gestern vor dem Kreistag kam es denn auch zu einer Versammlung von jungen Menschen und von Vertretern freier Träger der Kinder- und Jugendarbeit, die vor Kürzungen der Finanzierung in diesem Bereich warnten und dagegen Stellung bezogen. Ersichtlich war das die Folge von nicht klar kommunizierten Passagen im HSK, von Trägergesprächen des Jugendamtes und der darauf folgenden Bewertung im politischen Raum. Unabhängig davon ist es generell angebracht, öffentlich für eine gesicherte und auskömmliche Finanzierung der präventiven Jugendarbeit einzutreten übrigens.

Demo vor dem Kreistag zum Erhalt der Jugendhilfen

Worum ging es nun? Der Kreistag hatte mehrheitlich im Frühjahr zwar einen Haushalt beschlossen, parallel dazu aber mehrheitlich das Haushaltsstrukturkonzept abgelehnt. Eigentlich ein Widerspruch in sich. Denn ohne ein HSK war der Haushalt nicht genehmigungsfähig.

Dies galt es gestern zu „heilen“. Im Vorfeld mussten mit der Landesebene Verhandlungen geführt werden, weil unser Landkreis nicht in der Lage ist, die Finanzen für unabweisbare soziale Leistungen für seine Einwohner aufzubringen. Zu den Gründen später. Es gelang kurzfristig, dafür eine (Übergangs-) Lösung zu finden dank der Solidarität anderer Landkreise und Städte im Freistaat Sachsen uns gegenüber. Erheblichen Anteil an diesem Erfolg hat übrigens unsere bündnisgrüne Landtagsabgeordnete Franziska Schubert, die eine äußerst versierte Finanzpolitikerin ist.

Bedarfszuweise i.H.v. 40 Mio. Euro – mit vielen Nebenbestimmungen

Nachfolgend im Zitat Auszüge aus einer aktuellen Presseinformation der Landesdirektion, die zeigt, was dem Landkreis zugestanden wird:

„Die Landesdirektion Sachsen hat dem Landkreis Görlitz mit Bescheid vom 13. November 2023 eine Bedarfszuweisung in Höhe von 40 Mio. Euro gewährt. Damit sollen außergewöhnliche Belastungen im Haushaltsvollzug des Landkreises überwunden werden. Grundlage für die Bedarfszuweisung ist ein Beschluss des Beirates für den kommunalen Finanzausgleich im Freistaat Sachsen, dem intensive Beratungen mit dem Landkreis Görlitz, dem Staatsministerium der Finanzen sowie dem Staatsministerium des Inneren vorausgegangen waren. (…)

Der Landkreis Görlitz wird damit nunmehr in die Lage versetzt, eine dem Gesetz entsprechende Haushaltssatzung zu fertigen. Diese Haushaltsatzung muss der Höhe nach auch die vom Landkreis identifizierten, zusätzlichen Einsparpotentiale enthalten, die für die Haushaltkonsolidierung erforderlich sind. Die konkrete Auswahl der Maßnahmen obliegt dabei dem Landkreis selbst. (…)“

Soweit die Landesdirektion. Der Landkreis hat Anfang der Wochen einen mehrseitigen „Bescheid“ mit vielen, vielen Nebenbestimmungen bekommen, was hier nicht näher erläutert werden kann.

Zustimmung im Kreistag unsicher – Folgen bei Ablehnung sehr ernst

Im Vorfeld der letzten Tage wurde deutlich, dass keineswegs von einer gesicherten Mehrheit für das HSK und den entsprechenden Beschluss auszugehen war. Ich habe am Montag im Ausschuss für Gesundheit und Soziales – so viel darf ich trotz Beratung im nichtöffentlichen Teil sagen – vorgeschlagen, dass wir zum Beschluss als Kreistag eine ergänzende Entschließung fassen, die diesen politisch einordnet.

Unsere Fraktion hat die Entschließung sehr kurzfristig am Dienstag erarbeitet und sie konnte am Mittwoch zur Sitzung des Kreistages als so genannte Tischvorlage behandelt werden. Sie war vor dem eigentlichen HSK abzustimmen, gleichsam als Vorbedingung für eine Zustimmung. Unser Ziel war, damit auch Skeptikern eine Brücke zu bauen.

Sowohl Landrat Dr. Meyer als auch der Finanzbeigeordnete Herr Gampe wiesen in ihren einführenden Beiträgen auf die ernsten Folgen einer Ablehnung der Vorlage hin. Etwa in diesem Haushaltjahr allein ein finanzieller Schaden für unseren Landkreis in Höhe von rund 50 Millionen Euro. Weil die erste Jahres-Tranche der Bedarfszuweisung ersatzlos entfallen würde und weil wegen eines fehlenden Haushalts die Kreisumlage nicht eingezogen werden könne von den Städten und Gemeinden im Landkreis.

Eine „Haushaltslosigkeit“ im kommenden Jahr würde zudem dazu führen, dass viele Leistungen für die Menschen im Landkreis nicht erbracht werden könnten, Träger nicht finanziert würden mit der Folge der Kündigung von Beschäftigten, Einrichtungen geschlossen werden müssten usw. Das sei aber nicht zu verantworten. Ich möchte hinzufügen, dass dann genau die Schreckensszenarien eintreten würden, vor denen Kritiker des HSK im Vorfeld und nicht gerade seriös gewarnt hatten. Und noch vieles mehr, weil nahezu alle Bereiche der Aktivitäten des Landkreises betroffen wären.

Am Brücken bauen und Mehrheiten organisieren: Franziska Schubert und Thomas Pilz (BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN), Mitglieder des Kreistages in der Fraktion BündnisGrüne/SPD/KJiK

Antrag der Fraktion mit wichtigen Feststellungen

Unser Fraktionsvorsitzender Thomas Pilz sprach in der Debatte zum Thema und brachte unseren Entschließungsantrag ein. Dabei bezog er sich unter anderem auf einen Artikel von Sebastian Beutler in der Sächsischen Zeitung über die „Stimmungslage“ zum HSK. Dort hieß es „Die Fraktion Grüne/SPD/KJiK baute den ganzen Dienstag über Brücken, um eine Zustimmung zu erzielen.“

Genau das sei unser Bestreben, so Thomas Pilz, der mit Hinweis auf die Debatten zum Öffentlichen Personennahverkehr, zur Krankenhausversorgung und zu den Flüchtlingsheimen eine deutlich bessere, also frühzeitigere und verständlichere Information der Öffentlichkeit durch den Landkreis anmahnte.

Folgend der Text unseres Entschließungsantrag des Kreistages Görlitz zum Haushaltsstrukturkonzept des Landkreises Görlitz BV/508/2023:

Der Antrag wurde eingebracht von der Fraktion Bündnisgrüne-SPD-KJiK
  1. Der Kreistag Görlitz nimmt die mit Bescheid der Landesdirektion Sachsen vom 13.11.2023 angekündigte Bedarfszuweisung zur Unterstützung der Haushaltskonsolidierung im Landkreis Görlitz dankbar zur Kenntnis. Wir erkennen darin die Solidarität der kommunalen Familie in Sachsen.
  2. Wir stellen fest, dass es sich bei den „außergewöhnlichen Belastungen aufgrund planseitig erheblich höherer Auszahlungen“ um ein strukturelles Problem handelt, auf das wir als Kreistag seit Bestehen des Landkreises aufmerksam machen. Die verschiedenen Indikatoren zeigen, dass wir im Landesvergleich die größten Belastungen aller Landkreise zu bewältigen haben. Der aktuelle und demnächst veröffentliche Sozialstrukturatlas zeigt keinerlei Besserung der Lage.
  3. Zur Anerkennung dieser strukturellen Probleme und des damit verbundenen höheren Zuweisungsbedarfs hat der Kreistag Görlitz 2021 beschlossen, gegen das Sächsische Finanzausgleichsgesetz und die unzureichende finanzielle Ausstattung zu klagen. Daran halten wir fest. Die seit Jahren bestehende Unterfinanzierung ist keine Folge von Missmanagement vor Ort, sondern Ausdruck struktureller Probleme in der Wirtschaft, spezifischer Besonderheiten in der Zusammensetzung der Bevölkerung wie etwa eine weit überdurchschnittliche Pflegebedürftigkeit aber auch Ergebnis der unzureichenden Anwendung des Konnexitätsprinzips.
  4. Die im Haushaltstrukturkonzept ausgewiesene Reduzierung der Kulturförderung widerspricht allen Bemühungen zur Verbesserung der Anziehungs- und Bleibefaktoren in der Region. Die Verwaltung wird deshalb aufgefordert, den in Rede stehenden Betrag von jährlich 10 T€ nicht in Kultur, sondern in der globalen Minderaufwendung im Gesamthaushalt zusätzlich umzusetzen. Die Landkreisverwaltung wird außerdem darum gebeten, sich gegenüber dem Freistaat für eine tragfähige Theater- und Orchesterfinanzierung sowie eine Dynamisierung der Kulturraummittel ab 2025 einzusetzen. Kultur ist ein Standortfaktor.
  5. Aufgrund der im Vorfeld des Sonderkreistages aufgekommenen Verunsicherung bei den Freien Trägern der Jugendhilfe erklärt der Kreistag ausdrücklich, dass mit dem Beschluss des Haushaltsstrukturkonzeptes keine Kürzung im Bereich der Jugendhilfe verbunden ist. Wir schätzen die Arbeit der Träger und wissen um ihren Wert.
  6. Die mit Bescheid der LDS verbundenen Einsparauflagen betreffen die Jahre 2023/24. Für die folgenden Jahre wird der Landkreis mit der Erarbeitung eines Gutachtens zur Haushaltskonsolidierung beauflagt. Aus diesem Grunde wird auf die Vorläufigkeit der im Haushaltsstrukturkonzept festgelegten Einsparungen ab 2025 hingewiesen.

Soweit der Text der Entschließung.

Die Linke lehnt ab und bleibt ohne eigenen Vorschlag

Ich möchte hier nicht die gesamte Debatte referieren, zu der Oberbürgermeister Thomas Zenker aus Zittau übrigens in hervorragender Weise beitrug, sondern kurz und kritisch auf die Rolle der „AfD“ und der Linken eingehen.

Die Linke mit den Rednern Mirko Schultze MdL und Jens Hentschel-Thöricht machte viele Worte um die ja in der Tat langanhaltende schwierige Haushaltssituation des Landkreises und die diversen Zustimmungszwänge der letzten Jahre und um die aus ihrer Sicht katastrophale Verschlechterung für den ÖPNV oder das Theater. Sinngemäß, man habe jetzt die Nase voll und werde deshalb das HSK ablehnen. Ich kritisiere aber, dass keine eigenen Vorschläge gemacht wurden und vermutlich gar keine Vorstellung davon vorhanden ist, zu was ein Konfrontationskurs denn führen soll und inwiefern dadurch eine Verbesserung der Lage des Landkreises oder eine Aufrechterhaltung der Angebote z.B. im Bereich der Jugendarbeit erreicht werden soll?

Es ist geradezu unehrlich, einerseits unserem Entschließungsantrag zuzustimmen, andererseits das HSK ohne eigene Vorschläge abzulehnen. Wie das denen „verkauft“ wird, deren Interessen man doch zu vertreten vorgab zum Beispiel über dramatisierende Videos noch kurz vor der Sitzung, werden wir vielleicht noch sehen. Ich halte fest, dass das Handeln der Linken im Kreistag nur deswegen keinen großen Schaden anrichtet, weil am Ende eine Mehrheit für das HSK stand.

AfD will Landkreis in den Abgrund springen lassen und Wähler bestrafen

Und die „AfD“? Es war vorher angekündigt, dass sie das HSK ablehnen würde. Die „AfD“ Görlitz handelt erneut so, wie man es von dieser Partei auch sonst kennt: es ist eine Politik, die sich in Agitation und Obstruktion erschöpft. Man setzt darauf, dass man auf durch Verweigerung und Stimmungsmache herbeigeführtem Chaos und sich daraus ergebenden Scherbenhaufen weiter nach oben klettern kann, was Wahlergebnisse angeht.

Der Herr Domsgen aus Zittau zeigte die ganze Verdorbenheit und den Zynismus dieser AfD-Strategie in folgender sinngemässen Passage am Ende seines Redebeitrages: klar wisse man um die schädlichen Folgen der Haushaltslosigkeit für dann nicht mögliche Angebote im Landkreis. Aber das sei eine gerechte Strafe für diejenigen, die die falschen Parteien gewählt hätten.

Ich habe in einer spontanen Intervention die Erwartung geäußert, dass diese skandalöse Aussage des Herrn Domsgen breit und dauerhaft dokumentiert wird. Weiter dass die AfD, die doch vorgibt Anwalt des kleinen Mannes zu sein, mutwillig einen Schaden von 50 Millionen Euro allein in diesem Jahr anrichten will und die Versorgungssicherheit in vielen Bereichen gefährdet. Und schließlich, dass die „AfD“-Vertreter damit gegen die Verpflichtung aller Kreisräte verstossen, für das Wohl des Landkreises und seiner Bürger einzutreten.

Wie ging das Ganze aus und was ist daraus zu folgern?

Für unseren Entschließungsantrag gab es 47 Ja-Stimmen, 23 Nein, 4 Enthaltungen.

Für das HSK stimmten 38, mit Nein 29 (AfD, Linke, einzelne aus anderen Parteien) und 4 enthielten sich.

Der Landkreis ist damit auch unter schwierigen Bedingungen handlungsfähig für das nächste Jahr, Chaos, Kündigungen und der Wegfall bestimmter Leistungen (vor allem auch in der präventiven Jugendhilfe) sind abgewendet. Die strukturellen Probleme des Landkreises sind damit nicht gelöst, aber man kann erstmalig eine gewisse Anerkennung für deren Faktizität seitens der Landesdirektion ableiten.


Demokratische Mehrheiten schwierig – Bündnisgrüne als Brückenbauen

Die Bildung stabiler Mehrheiten für eine pragmatische und lösungsorientierte Politik im Kreistag wird zusehends schwieriger. Und das erfüllt uns mit großer Sorge für die Zukunft nach den kommenden Kommunalwahlen. Die wichtige, ja ausschlaggebende Rolle unserer Fraktion Bündnis90Die Grünen/SPD/KJiK als Brückenbauer und Organisator von Mehrheiten der Demokraten im Kreistag hat sich erneut erwiesen.

Verwandte Artikel